Vor zwei Wochen borgte mir ein Kollege ein Canon-Objektiv mit 24mm Festbrennweite und einer sagenhaften Lichtstärke von 1,4. Was soll man damit anfangen, mein erster Gedanke. Gleich am selben Abend machte ich einige Probeaufnahmen im Partykeller eines geschätzten Nachbarn. Licht dürftig, das Ambiente nicht jedermanns Sache, die Menschen einer sozialen Gruppe zugehörig, die (neudeutsch) als „Prekariat“ in der Gesellschaft kaum Beachtung findet.
Wer wissen möchte, wie das Leben wirklich ist, dem sei ein Heruntertransformieren in die sozialen Niederungen der „westlichen Wertegemeinschft“ empfohlen. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen, hier sind Freundschaften kurz, intensiv und fragil, jederzeit bereit, in Feindschaften zu kippen. Hier schaut man den im Mainstream verhandelten Problemen bestenfalls gleichgültig, zumeist ablehnend zu, ohne wirklich zu verstehen, was steckt hinter der wichtigtuerischen Hochglanzpropaganda einer Maischberger oder eines Markus Lanz. Diese Menschen kämpfen den Kampf ums Dasein am Rande einer Gesellschaft, die sich mit all ihrem Genderismus, ihrem selbstgerechten Gutmenschentum und ihrer Nachhaltigkeitsheuchelei von ihrem eigenen unteren Drittel entkoppelt hat.
Das Objektiv hat jede Menge Schwächen, glaubt man den Testberichten von Traumflieger bis Chip online. Diese Schwächen erweisen sich in der Praxis als Stärken. Starke Vignettierung, Randunschärfen und Verzeichnung schaffen bei der riesigen Offenblende ungeahnte Gestaltungsspielräume, die mit den Ultra-Scharf-Maßstäben unserer Apple-World nicht zu messen sind. Die Technologie ist von 1997 und es gelang mir, über eine einschlägige Second-Hand-Plattform für einen halbwegs annehmbaren Preis ein nahezu neuwertiges Exemplar der ersten Generation zu erwischen. Die große Bucht blieb diesmal außen vor.